Rezension des DEAFSHOP-Beraterteams:
Dieses Buch erzählt aus der Retroperspektive einer jungen Frau, die mit 8 Jahren an einer Hirnhautentzündung ertaubte. Erzählt wird aus ihrem Blickwinkel zurück auf viele schmerzhafte und interessante Szenen eines Lebens, das - wie der Titel des Buches es benennt - ein Leben hinter Glas zu sein scheint. Schonungslos und sehr differenziert werden die Probleme offengelegt, die im Alltag für gehörlose Menschen, - hier genauer spätertaubte Menschen - zu bewältigen sind. Zugleich versucht die Autorin immer wieder Hintergründe einzuführen, so dass der Leser/die Leserin die beschriebenen Lebensszenen anschaulich nachvollziehen und hoffentlich auch verstehen kann. Deutlich wird auch die immer wieder zu beobachtende Erfahrung, dass die Hörbehinderung des Kindes für gut-hörende Eltern zu einer enormen psychischen Belastung führen kann, verbunden mit starken Verdrängungsmechanismen. Hierauf hinzuweisen ist sicher die Stärke des Buches.
Hingewiesen werden muss darauf, dass es sich bei Renate S. um eine Frau handelt, die mit 8 Jahren ertaubte. Ihre Lautsprachentwicklung war somit bereits abgeschlossen, ihr Leben lief voll in der gut-hörenden Welt ab. Die plötzliche Ertaubung durch Erkrankung ist für sie selbst und ihr familiäres Umfeld ein Schockerlebnis, das starke Wirkung haben muss und zu erheblichen psychischen Folgen führt. Umso erfreulicher, dass das Buch keinen Zweifel an der Kampfansage an das Leben lässt. Der Wille das eigene Leben neu zu gestalten steht im Mittelpunkt und somit auch der positive Drang ein selbständiges, respektvolles Leben mit der eigenen Hörbehinderung zu führen. Die Gebärdensprache wird nicht abgelehnt und das ist für die Zeit der Veröffentlichung des Buches (1996) erstaunlich. Die dennoch vorhandene persönliche Distanz zur Gebärdensprache ist verständlich, da die Muttersprache für Renate S. unzweifelhaft die Lautsprache ist.
Interessant ist die Erfahrung, die Renate S. mit dem Film "Gottes vergessene Kinder" macht. Ein Film der in den 80er Jahren ähnliche Wirkung hatte wie Caroline Links Film "Jenseits der Stille" in den 90er Jahren. Renate S. kritisiert die Deaf-Power-Haltung, also die politische Einforderung der Gebärdensprache für die Kommunikation mit gehörlosen Menschen. Ihr Argument: das könne man nicht von gut-hörenden Menschen verlangen. Zugleich fordert Renate S. als Selbstverständlichkeit die Notwendigkeit von Gebärdensprachdolmetscher/innen ein.
Interessant ist es sicher, einen weiteren Lebenslauf einer gehörlosen jungen Frau zu lesen, die in ihrem Leben einen anderen Weg geht, um verstehen zu lernen, dass viele Wege möglich sind und von der individuellen Voraussetzung abhängen. Das Buch von Emanuelle Laborit "Der Schrei der Möwe" ist ebenfalls so ein Buch. Es ist sicher lohnend, bei einem guten Wein über zwei völlig unterschiedliche Lebenszugänge zweier gehörloser Frauen nachdenken.
"Hinter Glas - Gehörlos - Mit der Behinderung leben" von Gisela Holdau -Willems,
Ernst Kaufmann Verlag, 1996, 88 Seiten, kartoniert, ISBN 3-7806-2379-X
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